Esther – neunzehn

Esther – neunzehn

„Die Nüsse!“, keuchte Henry und wand sich krebsrot auf dem Boden. Die anderen Speed-Dater blickten erschrocken zuerst auf Henry, und dann auf ihre Schalen mit den Nüssen, als ob die vergiftet wären. Ich zog mein Handy aus der Tasche und wählte den Notruf, während ich mich neben Henry kniete und ihm mit zittrigen Fingern half, die Krawatte zu lösen.

„Ja, hallo? Wir brauchen hier sofort einen Krankenwagen, ich glaube, es liegt eine allergische Reaktion vor!“, schrie ich ins Telefon, während Henry hektisch nach Luft schnappte und seine Augen beinahe aus den Höhlen traten.

Zum Glück half mir der Veranstalter mit der Adresse und drei Minuten später war der Rettungswagen da. Die Sanitäter versorgten Henry mit Sauerstoff und hoben ihn auf eine Trage. Ganz so schlimm schien es doch nicht zu sein, denn Henrys schwitzige Hand hatte ordentlich Kraft, als er mich packte.

„Verlass mich nicht“, röchelte er und die Sanitäter blickten amüsiert zur Seite, während ich mir einfach nur ein Loch herbeiwünschte, in dem ich versinken konnte.

„Ohne dich“, flüsterte Henry keuchend, „hätte ich die Nüsse nie gegessen.“

„Ohne mich wäre der Krankenwagen nie so schnell gekommen“, gab ich mit einem angestrengten Lächeln zurück.

„So beginnen die schönsten Liebesgeschichten!“, rief Clark, der Organisator, euphorisch und entlockte den anderen Teilnehmern ein halbherziges Johlen. Unter peinlichem Geklatsche folgte ich Henry in den Krankenwagen, während ich mir innerlich ausrechnete, dass ich auf diese Weise immerhin schneller zuhause war, als wenn ich die restlichen sechzig Minuten an meinem Dating-Tisch ausgeharrt hätte.

Henry grapschte schon wieder mit seinen verschwitzten Fingern nach meiner Hand und zog sie an seine Lippen.

„Glaubst du auch an die Liebe auf den ersten Blick?“, fragte er keuchend.

Ich hoffte inständig, dass das Keuchen noch von seiner allergischen Reaktion herrührte und entzog ihm rasch meine Hand.

„Ich denke, wir sollten uns besser nicht mehr berühren, da ich mit diesen Fingern jede Menge Nüsse angefasst habe“, presste ich hervor, ohne auf seine Frage einzugehen, und vermied den Blickkontakt mit dem Sanitäter, der mir gegenüber saß und ein fettes Grinsen im Gesicht hatte.

„Das stört mich nicht“, flüsterte Henry erstickt. „Die Anziehung, die ich zu dir spüre, ist so viel größer, als all meine Allergien.“

Ich wusste nicht, was ich darauf sagen sollte.

„Eine tolle Geschichte“, grinste der Sanitäter. „Die könnt ihr später mal euren Kindern erzählen.“

 

Sie brachten uns in das Krankenhaus, in dem auch Amy arbeitete. Und als ich Henry zehn Minuten später erleichtert aus meinem Sichtfeld rollen sah, beschloss ich spontan, meine Cousine zu besuchen.

Vorher musste ich aber noch Flo anrufen.

Ich zog das Handy aus der Tasche und wählte ihre Nummer.

„Oh nein“, meldete sich Flo enttäuscht. „Du hast das Speeddating geschmissen?“

„Ich habe es nicht geschmissen, Flo, ich habe es gesprengt“, berichtigte ich sie.

Sie kicherte. „Erzähl!“

 

„Ach, ich wäre so gern dabei gewesen“, lachte Flo, als ich ihr die Erlebnisse des Abends im Schnelldurchlauf erzählt hatte. „Und wie sieht es aus? Wirst Du Henry, die alte Nuss, wiedersehen?“

„Nein“, antwortete ich mit einem Seufzer der Erleichterung. „Henry hat mir nämlich noch im Krankenwagen von seiner starken Katzenhaarallergie berichtet, weshalb eine Beziehung – Newton sei dank – auch für ihn nicht mehr in Frage kam.“

Flo lachte. „Und was war mit dem Sanitäter? War der wenigstens schnuckelig?“

Ich schüttelte den Kopf. „Du bist unmöglich, Flo.“

„Ich bin pragmatisch, Esther. So hübsch wie jetzt werden wir nie wieder sein. Da muss man sich die besten Fische im Meer sichern“, drang ihre Stimme ziemlich laut aus meinem Handy. Ein junger Mann mit kurzgeschnittenen Haaren ging gerade an mir vorbei und warf mir einen amüsierten Seitenblick zu. Im nächsten Moment taumelte er gegen die Wand und griff sich an den Kopf.

 

 

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