Esther – dreiunddreißig

Esther – dreiunddreißig

Die Frage beschäftigte mich während der ganzen Zugfahrt am übernächsten Tag und auch noch danach. Ich holte Newton aus der Wohnung meiner Nachbarin ab und bedankte mich recht herzlich bei ihr, während ich das Gefühl hatte, dass es sie nicht gestört hätte, den Kater noch ein wenig länger zu behalten.

Dann rief ich Flo an, um mir den neuesten Klatsch von der endgeilen Party erzählen zu lassen, die ich versäumt hatte, während Newton schnurrend um meine Beine strich und mir zu verstehen gab, dass er schon wieder Hunger hatte.

„Die Party hat nicht stattgefunden“, erklärte mir Flo, während ich mich auf meinem Sofa niederließ.

„Was? Wieso nicht?“, fragte ich und kuschelte mich tiefer in die Kissen. Es tat gut, wieder in meinen eigenen vier Wänden zu sein.

„Total furchtbare Geschichte“, flüsterte Flo. „Einer der Freunde von dem Typen, der sie schmeißen wollte, ist am Nachmittag bei einem Motorradunfall tödlich verunglückt. Sie haben deswegen alles abgesagt. Allerdings wusste ich das nicht, und bin trotzdem hingefahren.“

„Oh mein Gott“, hauchte ich. „Das tut mir leid. Kanntest du den Motorradfahrer?“

„Nein, überhaupt nicht“, antwortete Flo und klang schon wieder etwas munterer. „Dafür habe ich jemanden kennengelernt. Er wusste auch nicht, dass die Party abgesagt worden war und wir haben uns zufällig auf der Straße getroffen. Und ich sage dir, er sieht sooo gut aus.“ Sie seufzte glücklich und ich musste schmunzeln.

„Du würdest sogar noch auf einer Beerdigung jemanden aufreißen, Flo.“

„Ich weiß“, erwiderte sie selbstbewusst. „Schwarz ist übrigens auch eine Farbe, die mir außerordentlich gut steht.“

Ich lachte und schaute auf die Uhr.

„Ach, Mist, ich muss Schluss machen, Flo. Mein Chef hat mich für eine Doppelschicht eingeteilt, weil ich die letzten zwei Tage ausgefallen bin. Sehen wir uns morgen in der Uni?“

„Klar“, sagte Flo. „Und dann löchere ich dich wegen dem Typen, von dem du mir vor deiner Abreise nichts erzählen wolltest. So etwas vergesse ich nämlich nicht, da habe ich das Gedächtnis eines Elefanten.“

Ich lachte und dann machte ich mich auf den Weg zur Arbeit.

 

Im Coffeeshop war diesmal wieder unglaublich viel los und Greg hatte glücklicherweise keinen Dienst, sonst wäre es noch weitaus anstrengender geworden. Als die letzten Gäste nach einem schier endlos langen Tag endlich nach Hause gingen, fühlte ich mich, als hätte mich ein Bus überrollt. Draußen war es bereits dunkel, als ich mich müde an den Straßenrand stellte und darauf wartete, dass die Ampel grün wurde. Der Nieselregen hatte auch wieder eingesetzt und ich rückte gähnend den Gurt meiner Umhängetasche zurecht, bevor ich die Hände in meinen Jeans vergrub. Obwohl der Tag so anstrengend gewesen war, hatte ich doch immer wieder mein Handy gecheckt, in der Hoffnung, einen Anruf vorzufinden. Aber er … hatte sich noch immer nicht gemeldet. Bei dem Gedanken daran fühlte ich einen kleinen Stich direkt im Herzen, aber ich versuchte, ihm nicht zu viel Aufmerksamkeit zu schenken.

Was hatte meine Mutter gesagt? Das was geschehen soll, geschieht auch. Vielleicht war es einfach nicht unser Schicksal, einander wiederzusehen.

In diesem Moment fuhr ein Auto vorbei und ich hatte wieder diesen Song von NEBEN in meinem Kopf, den es x-Mal im Radio gespielt hatte. Ohne genau zu wissen, warum, bekam ich Gänsehaut am ganzen Körper, und dann war das Auto vorbei und die Ampel schaltete auf Grün.

Noch immer in Gedanken versunken, ging ich los. In meinem Kopf sang der Frontmann von NEBEN ohne Sterne die Nacht, die dich dunkel macht“ und ich spürte ein trauriges Gefühl in mir hochsteigen.

Hinter mir hörte ich einen dumpfen Laut, es war durch das Geräusch des Regens nicht besonders laut, aber es machte irgendetwas mit mir und ich drehte mich unbewusst um.

Und da stand er, neben dem Café und fuhr sich resigniert durch seine nassen schwarzen Haare.

Die Welt um mich herum wurde still, ich hörte den Regen nicht mehr, ich hörte nur noch meinen Herzschlag, der laut und heftig in mir pochte und mir das Gefühl gab, dass dies einer dieser besonderen Momente war, an die man sich sein Leben lang erinnerte. Das Glück stieg plötzlich aus meinem Inneren nach oben, ich fühlte es an meinen Mundwinkeln zupfen, fühlte, wie ich zu lächeln begann, und einfach nicht mehr aufhören konnte. Unsere Blicke trafen sich, und ich sah, wie sich in seinen blauen Augen erst Verblüffung, dann Freude und schließlich Schrecken abzeichneten.

Dann hörte ich ein lautes Quietschen und im nächsten Moment fühlte ich nur noch, wie ich durch die Luft flog.

Irgendjemand schrie etwas und ich schmeckte Blut. Der Regen fiel noch immer vom Himmel, doch ich spürte ihn nicht mehr, ich spürte gar nichts mehr, als ich auf dem Rücken lag und die Dunkelheit von allen Seiten an mir zog. Und obwohl ich verzweifelt darum kämpfte, wach zu bleiben, spürte ich doch, dass ich diesen Kampf verlieren würde.

Er, dessen Name ich nicht einmal kannte, stürzte zu mir, war bei mir, und ich fühlte seine Berührung auf meiner Haut, es war das Einzige, was ich noch fühlte. Seine Lippen bewegten sich und er schrie etwas, aber ich konnte es schon nicht mehr hören. Das Letzte, an das ich mich erinnern konnte, waren seine weit aufgerissenen blauen Augen … und danach nichts mehr.

10 thoughts on “Esther – dreiunddreißig

  1. Hallo ihr Lieben,
    wir wollen ja nicht zu viel verraten … aber seht euch doch noch mal den Titel unseres Blogromans an – den hatten wir absichtlich so gewählt 🙂
    Liebe Grüße!
    Carmen & Ulli

  2. Och neee!! Ich hatte gehofft, dass Esther und Erik sich noch richtig kennenlernen würden… Richtig schade, wenn es hier schon mit Esther enden würde 🙁

  3. Der Titel heißt ja …. Was wäre wenn…… Das Ende sieht für mich so aus… Sie heiraten und kriegen 5 Kinder ❤️
    Und jetzt muss er sie mal ins Krankenhaus bringen….

    Übrigens ein toller Blog Roman…. Freue mich schon auf Freitag ?

    1. Lasst euch mal überraschen. Wir sagen nur so viel: der Blogroman ist noch nicht zu Ende, es geht nächste Woche weiter!! Viele Grüße, Carmen & Ulli

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