Eric – 75

Eric – 75

Es war ein Witz. Das alles hier war ein Witz. Ich war das erste Mal in dieser beschissenen Kleinstadt, in die sie vor Jahren gezogen war, mit dem dicken Vorsatz im Gepäck, ihre Vergangenheit hinter sich zu lassen.

Sie war hierhergekommen, in den Idylle kotzenden Ort, um mit einem neuen Mann zusammenzuleben, um ein neues Kind mit ihm zu machen, um hierzubleiben, bis sie irgendwann sterben würde und dabei keinen Gedanken an das alte Kind mehr zu verschwenden. Wahrscheinlich ging sie damals jeden Tag summend hier einkaufen, gleich in dem Laden an der Ecke mit der scheußlichen Gemüse-Deko, kaufte dort ihre Sachen, schwatzte mit dem Verkäufer über das Wetter, grüßte die anderen Bewohner freundlich, schmökerte am Kiosk in einem bunten Kochmagazin und ging regelmäßig in die Kirche, um Gott für ihr neues Leben zu danken.

Aber dann, als mein Erfolg kam, da fiel ihr ihr Kind wieder ein. Da war ich dann kein dreckiges Geheimnis mehr, sondern jemand, mit dem man reden wollte, von dem man eine zweite Chance verlangte, weil man sich plötzlich so allein fühlte. Weil der Mann vielleicht doch lieber die Sekretärin vögelte oder das neue Kind einen einfach scheiße fand und mit dem Gesumme nichts anzufangen wusste.

Aber das neue Kind war jetzt krank, und der Druck wurde größer, und deswegen sollte das alte Kind jetzt als Ersatzteillager herhalten. Weil es unmenschlich wäre, nichts zu tun – und das von einer Frau, die von Menschlichkeit keine Ahnung hatte.

„Ich werde sie nicht treffen“, sagte ich, nachdem mein bitteres Lachen versiegt war.

Esthers Kopf lag noch immer an meinem Rücken und ihre Berührung, ihr gesamter Körper sorgte dafür, dass ich nicht gleich auseinanderfiel.

„Okay“, sagte sie nur und ich wusste, dass sie es verstand.

„Nur das Mädchen“, sagte ich und drückte ihre Hand näher an meine Brust. „Und wenn es mir zu viel wird, hau ich ab.“

 

Wenig später verließen wir die Pension. Meine Mutter hatte per WhatsApp eingewilligt, dass wir Zoe alleine trafen, aber wahrscheinlich hätte sie alles gemacht, um ihr neues Kind zu retten. Wahrscheinlich hätte sie dem verdammten Teufel ihre Seele verkauft, aber wozu brauchte der die schon.

Esther griff nach meiner Hand und wir gingen wortlos die Straße entlang. Am Hauptplatz waren sie noch immer wie emsige Bienchen mit den Arbeiten für das Volksfest beschäftigt und alle grinsten und lachten, als würde es nichts Schöneres geben, als diese Vorbereitungen zu treffen. Mann, in diesem Kaff war echt nicht viel los und wahrscheinlich war das schon das Highlight des Jahres.

„Da drüben ist es“, bemerkte Esther und deutete mit dem Finger auf einen kleinen Laden mit Glasfronten, an dessen Tür in großen Lettern „Hannets Bakery“ geschrieben stand.

Ich zog scharf die Luft ein, da jeder Schritt, den ich in Richtung des Cafés machte, einen weiteren Stein in meine Magengrube warf.

Esther ging stumm neben mir her. Sie versuchte nicht mich aufzumuntern, sie versuchte nicht, mich in irgendeine Richtung zu bestärken, sie war einfach nur da. Und dafür war ich ihr dankbar. Auch dafür, dass sie keinen von diesen beschissenen Sprüchen abließ, von wegen Familie, von wegen zweite Chance, von wegen Menschlichkeit.

Ihre Finger um meine zu spüren, sie bei mir zu wissen, zu wissen, dass ich in dieser verdammten Stadt nicht allein war, das allein reichte schon, und nur deswegen ging ich weiter.

Wir blieben vor der Tür stehen. Im Hintergrund begannen sie, langsam Musik zu spielen. Ich drehte mich kurz um.

Es war eine von diesen grottenschlechten Bauernbands in hässlichen gestreiften Klamotten, bei der einer immer den Ton versaute und es war das Gegenteil, wirklich das Gegenteil von meiner Musik. Aber es passte zu dieser Kleinstadt und dem Leben hier, obwohl es stinklangweilig war und der Rhythmus nichts hergab. Aber die Leute fanden es geil, so wie sie ihr Leben hier geil fanden und auch dazu einfach nur klatschten.

Ich öffnete die Tür und betrat als Erster das Café, in dem ein paar weiße Tische mit grünkarierten Tischdecken standen. Nicht alle waren besetzt und mein Blick glitt rasch durch den Raum, bevor er sich an ihr festsaugte. Und obwohl ich sie noch nie gesehen hatte, erkannte ich sie sofort, wie sie da in der Ecke saß und ins Nichts starrte.

6 thoughts on “Eric – 75

  1. Hallo, ihr zwei,

    ich kann Eric so gut verstehen. Was ist seine Mutter für ein Mensch, den kleinen Sohn einfach beim gewalttätigen Vater zurückzulassen? Warum hat sie ihn nicht mitgenommen? Sie hätte doch erstmal in ein Frauenhaus gehen können. Wegen ihr ist Eric heute ein Mann voller Wut, Selbstzweifel und vor allem Selbsthass. Es gelingt ihm nicht, mit der Vergangenheit abzuschließen. Nicht ohne Hilfe. Sie war einfach zu schlimm. Zum Glück hat Eric Esther gefunden, seinen Stern, der ihm den Weg aus dem Dunkeln zeigt. Habt ihr den Namen Esther deshalb ausgesucht, wegen der Bedeutung? Warum hat die „Mutter“ nicht eher Kontakt zu Eric aufgenommen? Warum erst als Eric berühmt ist und viel Geld verdient? Schon komisch. Angeblich haben sich solche Leute immer geschämt, weil sie sich in der Vergangenheit so verhalten haben. Aber prozentual mit dem Einkommen der Kinder verringert sich plötzlich auch die Schamgrenze… Jetzt soll er einer bis dato unbekannten Schwester Organe spenden. Ich weiß nicht, ob ich an seiner Stelle dazu bereit wäre. Andererseits kann das Mädchen nichts dafür. Schwierig. Wenn die Situation real wäre, würde ich mich echt wahnsinnig über diese so genannte Mutter aufregen…

    Ich finde euren Blogroman noch immer toll und freue mich auf jeden Dienstag und Freitag.

    Liebe Grüße und ein schönes Wochenende
    Evangeline

  2. Jetzt wird’s interessant und man muss wieder warten, bis es weitergeht ?
    Bin ja gespannt, ob es der Schwester und Mutter wirklich so gut geht, wie er dachte…?

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