Esther – 70

Esther – 70

Eric, ich will ein Kind von dir!“, brüllte eine Frau aus dem Publikum und die Handykamera zoomte auf Eric, der am Rand der Bühne stand.

„Nicht heute Nacht“, erwiderte er cool und erntete Gelächter. Dann hob er das Mikro noch näher an die Lippen. „Heute spielen wir einen ganz besonderen Song“, erklärte er dann und das tiefe Timbre seiner Stimme erfüllte den ganzen Saal. „Er heißt Alles und nichts und ist für eine ganz besondere Frau. Als ich ihn geschrieben hab, dachte ich, dass ich sie vielleicht für immer verlieren würde.“ Er machte eine kurze Pause. „Sie kann heute Abend zwar nicht hier sein, aber ich hoffe, sie hört dennoch zu.“ Langsam wandte er sich vom Rand der Bühne ab und ging zurück zum Mikroständer. Kurz darauf setzten die ersten Takte ein und mir stockte der Atem als Eric zu singen anfing.

„Das kann er echt gut“, sagte Flo, die neben mir saß und sich mit mir das Youtube-Video ansah.

Ich lächelte und beschloss, ihr nichts von Erics Vegas-Geständnis zu erzählen. Nicht, weil ich ihr nicht vertraute, sondern weil ich einfach nach vorn blicken wollte.

„Du siehst besser aus“, sagte Flo nachdem das Video zu Ende war.

„Ich fühle mich auch besser“, erwiderte ich.

„Das ist gut“, meinte sie. „Dann sehen wir uns morgen in der Uni?“

Newton strich schnurrend um meine Beine und ich streichelte sein Köpfchen, während ich nickte. „Klar. Ich muss ja doch irgendwann dorthin zurück.“

 

Der nächste Morgen kam viel zu schnell. Ich rückte den Riemen meiner Tasche zurecht und atmete tief durch, als ich am Fuß der breiten Treppe vor der Universität stand. Das Gebäude ragte hoch über mir auf und ich hoffte inständig, dass mir ein ruhiger Tag bevorstand und Erics Aufeinandertreffen mit Mister Norris nicht die große Runde gemacht hatte.

Als mich schon die ersten Studenten schief anguckten, gab ich mir einen Ruck und stieg mit klopfendem Herzen die Treppe hoch. Dabei kam es mir so vor, als ob mich einige Leute mit ihren Blicken verfolgten, aber ich redete mir ein, dass ich mir das nur einbildete und schlug den Weg zu meiner ersten Vorlesung ein. Zum Glück lag der Saal ein ganzes Stück von Mister Norris’ Büro entfernt und ich versuchte, das Getuschel hinter meinem Rücken nicht auf mich zu beziehen, als plötzlich jemand auf meine Schulter tippte. Erschrocken fuhr ich herum und atmete erleichtert auf, als ich Mary erblickte.

„Hey“, sagte ich. „Du hast mich erschreckt.“

„Sorry“, sagte Mary und strich sich eine Strähne ihrer kinnlangen dunkelbraunen Haare hinters Ohr. „Du sollst ins Büro der Dekanin kommen“, meinte sie dann leise.

„Ins Büro der Dekanin?“, wiederholte ich überrascht.

Mary nickte. „Ich hab versucht, dich zu erreichen, aber dein Handy war tot.“

Ich seufzte. „Ja, das ist … eine lange Geschichte. Ich hab es am Montag zur Reparatur gebracht und bekomme es erst heute Nachmittag zurück.“

Sie nickte und starrte mich an. Ich sah, dass ihr eine Frage unter den Nägeln brannte und hatte weder Lust über meinen Medienauftritt als hässliche Cousine, noch über Erics Ausraster in der Uni zu sprechen. Rasch machte ich einen Schritt zurück. „Danke, dass du mich benachrichtigt hast. Ich beeil mich dann lieber“, sagte ich und machte, dass ich wegkam.

 

„Guten Morgen“, begrüßte mich die Dekanin ernst, als ich kurz darauf an ihre Tür klopfte.

„Guten Morgen“, erwiderte ich und betrat das helle Büro mit den hohen Fenstern. „Sie wollten mich sprechen?“

Die Dekanin strich sich über ihr enganliegendes graues Kostüm und nickte. Dann bedeutete sie mir, auf einem der beiden Besucherstühle Platz zu nehmen, während sie hinter ihren Schreibtisch aus poliertem Eichenholz trat.

„Allerdings“, erwiderte sie und setzte sich. Einen Moment lang war es still und ich bemerkte, wie sie mich von oben bis unten musterte. „Ich habe erfahren, dass Sie bei der Polizei Anschuldigungen gegen einen unserer Dozenten vorgebracht haben“, erklärte sie dann sachlich.

„Das ist richtig“, entgegnete ich und suchte den Blickkontakt. „Darf ich fragen, wie Sie davon erfahren haben?“

Die Dekanin zog eine schwarze Braue hoch. „Mister Norris hat mich selbst davon in Kenntnis gesetzt, nachdem die Polizei gestern Abend bei ihm aufgetaucht ist“, antwortete sie ohne erkennbare Emotion. „Er war es auch, der um ein gemeinsames Gespräch gebeten hat, da es sich seiner Auffassung nach um ein Missverständnis handeln muss.“ Sie machte eine kurze Pause und griff nach dem Telefonhörer. „Deshalb würde ich ihn jetzt gerne dazu holen, wenn Sie nichts dagegen haben.“

6 thoughts on “Esther – 70

  1. Zwei gegen einen na super ?

    Das ätzende ist das es solche Dozenten wirklich gibt und sie einfach am längeren Hebel sitzen ??

    Ich hoffe Esther lässt sich nicht klein kriegen!

  2. Oh mann, nicht das die arme Esther jetzt als Lügnerin dasteht?❤?
    Ich liebe eure Geschichten, ihr seid genial ihr Lieben❤

  3. Oh oh bitte nicht die arme Esther. Am Ende hat er den höheren Rang und lügt nur um nicht bloßgestellt zu werden. ARSCHLOCHALARM!!!!!!!!!!
    Tolle Story❤

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