Esther – siebenundvierzig

Esther – siebenundvierzig

Er blieb die ganze Nacht weg und kam auch am Morgen nicht zurück.
Ich hatte keine Ahnung, was passiert war und obwohl mir eine innere Stimme zuflüsterte, dass sein Verhalten nichts mit mir zu tun hatte, dachte ich dennoch die ganze Zeit darüber nach, ob ich irgendetwas falsch gemacht hatte.
Immer wieder ließ ich den Abend Revue passieren, diesen unglaublichen Moment, als ich erkannte, dass er es gewesen war, der mir die Zeichnung des Rabens geschenkt hatte. Als wir uns danach geliebt hatten, hatte ich die Tätowierung auf seiner Brust entdeckt. Es war der gleiche Rabe wie auf seinem Bild. Wenn man ganz genau hinschaute, erkannte man das Auge eines Mädchens zwischen seinem Gefieder.

Mein Auge. Noch immer hatte ich das nicht ganz verdaut.
Danach hatte ich einfach nur seine Nähe genossen und das Gefühl, in seinen Armen zu liegen. Und dann war irgendetwas passiert. Ich hatte versucht, ihn nicht zu bedrängen, aber er war trotzdem gegangen und obwohl der Abend so unglaublich schön begonnen hatte, sah ich ihn jetzt nur noch im Licht dieses unschönen Ausgangs.

Was war passiert?

Was hatte ich falsch gemacht?

„Esther?“, fragte meine Mutter. „Willst du vielleicht ein Brötchen?“
Wir saßen am Frühstückstisch, meine Eltern und ich. Eric war nicht da, sein Wagen hatte schon in den frühen Morgenstunden nicht mehr in der Einfahrt gestanden. Er war bereits in der Nacht weggefahren, und ich hatte kaum ein Auge zugemacht.

Ich verstand nicht, was in ihm vorging, ich verstand es absolut nicht.

„Esther?“, wiederholte meine Mutter. „Du solltest wirklich was essen. Seit du im Krankenhaus warst, bist du noch dünner geworden.“

Ich nickte und ließ zu, dass sie mir ein Brötchen mit meiner Lieblingsmarmelade bestrich, obwohl ich absolut keinen Hunger hatte.


„Ich werde nach Hause fahren“, entschied ich dann spontan, nachdem ich einen Bissen heruntergewürgt hatte.


„Jetzt schon?“, fragte meine Mutter. „Ich dachte, ihr bleibt das ganze Wochenende.“

„Es tut mir leid, Mama“, sagte ich und wich ihrem Blick aus. „Ich muss noch was für die Uni lernen und fühle mich wohler, wenn ich zurückfahre. Ich habe durch den Unfall wirklich viele Vorlesungen verpasst. Wenn ich das Semester noch wie geplant schaffen will, hab ich unglaublich viel nachzuholen.“

„Aber Esther“, mischte sich jetzt mein Vater ein, „das Studium läuft dir doch nicht weg. Du musst jetzt erst mal auf dich schauen und sehen, dass du wieder gesund wirst.“


„Das tue ich doch“, erwiderte ich schärfer, als ich wollte. „Ich schaue auf mich, indem ich meinen Gefühlen folge. Es tut mir leid, dass ihr euch das Wochenende anders vorgestellt habt, aber ich komme euch ja wieder besuchen.“

Einen Moment herrschte Stille am Tisch.

„In Ordnung“, sagte meine Mutter dann. Ich sah die Enttäuschung auf ihrem Gesicht, aber ich wusste gleichzeitig, dass sie auch meinte, was sie sagte. „Es ist deine Entscheidung, Schatz – und es ist nie falsch, auf seine Gefühle zu hören.“


Bei dem Satz traten mir Tränen in die Augen. Ich senkte schnell den Kopf, weil ich nicht wollte, dass sie etwas davon mitbekamen. Meine Eltern liebten mich zu sehr, als dass sie es ertragen konnten, mich leiden zu sehen. Und aktuell hatte ich ja wirklich keine Ahnung, was ich fühlen sollte. Ich war sauer auf Eric, weil er einfach so abgehauen war, und gleichzeitig hatte ich eine unglaubliche Sehnsucht nach ihm. Und dann war da noch diese kleine, nervige Stimme, die sich fragte, ob ich schlicht zu viel in die Situation hineininterpretiert hatte.


Es war kein Geheimnis, dass Eric die Frauen zu Füßen lagen, und vielleicht war ich jetzt, nachdem wir Sex gehabt hatten, für ihn uninteressant geworden. Mein Herz sperrte sich gegen diesen Gedanken und ich konnte das auch nicht wirklich glauben, aber der Zweifel spukte schon die ganze Zeit in meinem Kopf rum.

Stopp. Genug. Entschieden stand ich von meinem Stuhl auf.
„Papa, wärst du so lieb, mich zum Bahnhof zu bringen? Ich packe nur schnell noch meine Tasche.“

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